Arbeitsmarktintegration neu denken

Die professionelle Soziale Hilfe ist eine der zentralen Aufgaben unseres Sozialstaats – und dennoch bleibt ihre Wirkung oft hinter den Erwartungen zurück. Wie wir sie heute organisieren – besonders im Bereich Arbeitslosigkeit – ist ineffektiv, ineffizient, entmündigend und gefährlich teuer für die Solidargemeinschaft und die Wirtschaft.
Warum ist das so? Und wie kann man es besser machen?
Die Praxis der Sozialen Hilfe muss sich am Erfolg messen lassen. Denn wenn sie sich als erfolglos erweist, ist Veränderung unausweichlich. „Sozial ist am Ende nur der, der die richtigen Dinge gut tut“.
Ungelöste Probleme seit etlichen Jahren:
- Unternehmen finden keine Arbeitskräfte
(Das IAB zählte im ersten Quartal 2025 fast 1,2 Millionen offene Stellen, von denen nahezu 80 Prozent sofort zu besetzen waren. Keineswegs werden dabei nur Fachkräfte gesucht. 28 Prozent der Jobs waren für Ungelernte geeignet). - Millionen erwerbsfähige Menschen sind (langzeit)arbeitslos (anklicken)
- Die Solidargemeinschaft ist überlastet
(Das Budget 2024 der Jobcenter lag bei ca. 46,8 Mrd. € für Bürgergeld und Unterkunft. Das der BA lag bei rund 22 Mrd. € für Arbeitslosengelder. Dazu kamen noch Verwaltungskosten und Fördermittel. Insgesamt ergibt sich ein Volumen von schätzungsweise 68–72 Mrd. € für Erwerbslosigkeit inkl. indirekter Effekte €). - Deutsche Arbeitsmarktinstitutionen im Vermittlungsdilemma
(Die BA (Bundesagentur für Arbeit) und die Jobcenter beschäftigen weit über 100 000 Mitarbeiter. Die Vermittlungsquote im Bereich Bürgergeld (ehemals Hartz IV) liegt gerade mal bei 5,9 % p. a., halb so hoch wie 2014 (13,9 %) – mit weiter abnehmender Tendenz. Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen in Deutschland sind seit über zwei Jahren ohne Job. Die Hälfte aller erwerbsfähigen Leistungsbezugsempfänger/innen sind „länger als 4 Jahre“ im Leistungsbezug. Die Vermittlungsquote im Bereich des Arbeitslosengeldes I in Deutschland liegt ebenfalls dürftig bei 6,6 % (2022), früher 12,6 % (2014). - Hilf- und einfallslose Sozial-Politiker (anklicken)
„Es will einfach nicht MATCHEN“ – Andrea Nahles – Vorsitzende eines Arbeitsmarktsystems, das sich nicht ändern will und kann.
Die ständige Erzählung von den (multiplen) persönlichen Hemmnissen der Arbeitslosen und dem Mismatch am Markt zeigt die Ratlosigkeit und will vom systemischen Versagen ablenken :
https://www.youtube.com/watch?v=sasMi864ktA „Also das ist ein sehr, sehr klassisches Phänomen. Wir bezeichnen das ja immer als Mismatch. Sie haben nicht an der richtigen Stelle, an dem richtigen Ort den Menschen mit genau der Qualifikation, die sie brauchen. – Das bestätigt uns auch die (unsere eigene nämlich) Wissenschaft.“ Markus Bircher Regionaldirektion Nord BA Juli 2025
Arbeitsmarktintegration neu denken – für ein potenzialorientiertes Jobcenter der Zukunft (Sozialstaatsreform erforderlich)
Wir stehen vor einer Herausforderung, die sich nicht mehr schönreden lässt:
Trotz Milliardenaufwand, trotz einer hochgradig organisierten Vermittlungsstruktur – gelingt es uns nicht, Arbeitslose und offene Stellen in ausreichender Weise zusammenzubringen.
Wir sprechen hier nicht von Einzelfällen oder temporären Schwankungen. Sondern von einem strukturellen Missstand:
Ein dauerhaftes Missverhältnis zwischen dem, was Unternehmen suchen – und dem, was unsere Vermittlungsinstitutionen hervorbringen.
Die Bundesagentur für Arbeit selbst spricht von einem anhaltenden Mismatch.
Während Unternehmen dringend Personal suchen, verharren gleichzeitig hunderttausende Menschen in Hilfebedarf.
Das ist nicht nur eine soziale Schieflage. Es ist auch ein wirtschaftlicher Verlust – und es sind enorme Kosten für die Gesellschaft.
Und deshalb müssen wir ehrlich sagen: Das Problem liegt nicht allein bei den Arbeitslosen. Es liegt im System selbst.
Ein System, das strukturell behindert, statt zu befähigen.
Das gegenwärtige Modell der Arbeitsmarktintegration ist vielfach defizitorientiert, verwaltend und reaktiv. Es arbeitet mit standardisierten Maßnahmen, festen Steuerlogiken und einem Menschenbild, das nicht auf Entwicklung setzt, sondern auf Kontrolle.
Was dabei herauskommt, ist oft keine Integration – sondern eine Form der institutionellen Bequemlichkeit. Denn ja – auch das gehört zur Wahrheit:
Systeme können Bequemlichkeit fördern. Und Menschen neigen dazu, sich einzurichten, wenn keine Herausforderung kommt.
Immanuel Kant hat das vor über 200 Jahren auf den Punkt gebracht: „Der Mensch hat den Hang zur Bequemlichkeit.“
Wenn ein System nicht zur Eigenverantwortung anregt – sondern Anpassung belohnt – dann wird es selbst Teil des Problems.
Reform braucht mehr als neue Programme – sie braucht einen Perspektivwechsel. Deshalb reichen kosmetische Korrekturen nicht aus.
Wir brauchen keine weitere Fördermaßnahme. Wir brauchen auch nicht mehr Vermittler und neue Steuermilliarden.
Wir brauchen eine neue Haltung.
Eine Haltung, die davon ausgeht, dass Menschen nicht nur vermittelt werden müssen, sondern auch gestalten wollen. Eine Haltung, die anerkennt, dass jeder Mensch Fähigkeiten, Erfahrungen, Interessen und Entwicklungspotenzial hat – unabhängig von Herkunft, Lebenslauf oder Bildungsweg.
Genau hier setzen drei wissenschaftlich tragfähige Konzepte an, die den Kern einer modernen, menschenorientierten und unternehmensnahen Arbeitsmarktpolitik bilden können:
- Human Resource Management (HRM):
Es ist an der Zeit, dass wir Menschen nicht mehr als „Vermittlungsfälle“ behandeln, sondern als Ressource mit Zukunft. HRM denkt in Entwicklung, nicht in Verwaltung. Genau das brauchen auch unsere Jobcenter. - Empowerment:
Menschen müssen nicht gesteuert, sondern gestärkt werden. Es geht darum, Selbstwirksamkeit zu ermöglichen – und den Raum für Eigenverantwortung zu schaffen. - Stärkenorientierung:
Der Fokus darf nicht länger auf Defiziten liegen. Sondern auf dem, was da ist: Können, Motivation, Lebensleistung. Nur wer Stärken sieht, kann Zukunft gestalten.
Diese drei Konzepte eint eine gemeinsame Logik: Sie wollen nicht Matching, sie wollen Anschlussfähigkeit.
Nicht mechanische Passung auf irgendeine Stelle – sondern einen Übergang, der biografisch Sinn ergibt. Einen Weg, der berufliche Identität erlaubt – und nicht nur Maßnahmen erfüllt.
Wer soll das umsetzen? Nicht das bestehende System allein.
Doch machen wir uns nichts vor: Eine solche Neuausrichtung kann nicht allein aus den bestehenden Strukturen heraus entstehen.
Die Bundesagentur für Arbeit – so verdienstvoll sie auch ist – ist institutionell zu stark in Routinen, Pflichten und Verwaltungslogiken eingebunden, um diesen Perspektivwechsel selbstständig leisten zu können.
Deshalb braucht es eine unabhängige, wissenschaftlich arbeitende Einrichtung, die losgelöst von der BA neue Modelle entwickelt, testet und begleitet bzw. auf schon existierende erfolgreiche Arbeitsmarktprojekte im Inland und im Ausland zurückgreift.
Eine wissenschaftliche Denkfabrik – aber mit Umsetzungsanspruch. Eine Schnittstelle zwischen Forschung, Praxis und Politik. Nur von dort aus kann eine echte Reform entstehen – evidenzbasiert, interdisziplinär und wirksam.
Was heißt das konkret für die Jobcenter?
- Beratung wird Coaching: Persönlich, zielorientiert, auf Augenhöhe.
- Maßnahmen werden Angebote: Flexibel, modular, individuell anschlussfähig.
- Personal wird Begleiter: Mit HR-Kompetenz und Entwicklungsfokus.
- Unternehmen werden Partner: In Qualifizierung, Praktika, Mentoring.
- Menschen werden aktiviert: Nicht durch Sanktion, sondern durch Zutrauen und echte Perspektiven.
Und das Ziel?
Nicht, dass die Menschen möglichst lange im System bleiben. Sondern dass sie möglichst schnell aus eigener Kraft wieder herauskommen.
Langfristig sollten sich Jobcenter überflüssig machen – weil Integration gelingt. Wandel ist möglich, wir müssen uns nicht damit abfinden, dass Vermittlung scheitert, Menschen resignieren und Potenziale brachliegen.
Fazit:
Das Problem liegt nicht nur bei den Menschen. Es liegt im System selbst.
Ein System, das Menschen bequem macht
Unser gegenwärtiges Modell der Arbeitsmarktintegration – vor allem, wie es durch die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter praktiziert wird – konserviert vielfach das, was es eigentlich überwinden will.
Es arbeitet standardisiert, verwaltend, defizitorientiert. Es betrachtet Arbeitslose häufig als Objekte – nicht als Gestalter ihres eigenen Lebenswegs. Schlimmer noch: Es hilft – oft ungewollt – dabei, dass sich Menschen im Hilfesystem einrichten. Nicht, weil sie faul wären. Nicht, weil sie nicht wollen.
Sondern weil das System keine echte Alternative anbietet.
Wenn ein System keine Herausforderung bietet, wenn es nicht zur Eigenverantwortung anregt, dann wird der Hang zur Bequemlichkeit strukturell gefördert. Und genau das passiert heute – Tag für Tag – in unseren Jobcentern. Wir brauchen eine echte Reform – nicht ein weiteres Programm
Was wir brauchen, ist keine neue Maßnahme, wir brauchen einen grundlegenden Perspektivwechsel. Ein Perspektivwechsel, der auf drei wissenschaftlich fundierten Säulen steht:
- Human Resource Management – also das Denken in Entwicklung, nicht in Verwaltung. Menschen haben Potenzial. Und es ist Aufgabe eines modernen Sozialstaates, dieses Potenzial zu fördern, nicht zu verwalten.
- Empowerment – also Befähigung zur Selbstverantwortung.
- Stärkenorientierung – statt Handlungsprogramme im Defizit- und Matchinghamsterrad.
Arbeitsvermittlung darf sich nicht auf mechanisches Matching beschränken. Wir brauchen Anschlussfähigkeit – biografisch, sozial, beruflich. Menschen müssen dort andocken können, wo ihre Lebenswirklichkeit sinnvolle Entwicklung erlaubt.
Die BA kann das nicht allein leisten
Eine solche Neuausrichtung kann nicht aus dem Inneren der Bundesagentur für Arbeit heraus entstehen. Dafür ist sie zu stark verhaftet in ihren eigenen Routinen, Verfahren und Steuerlogiken.
„Hilfesysteme neigen nicht dazu, sich überflüssig zu machen“ – Niklas Luhmann / Soziale Systeme.
Was wir brauchen, ist eine unabhängige wissenschaftliche Struktur, losgelöst von der BA, die die Reform wissenschaftlich entwickelt, begleitet und evaluiert.
Eine Einrichtung, die evidenzbasiert denkt, interdisziplinär arbeitet und frei von institutionellen Loyalitäten ist. Denn nur wer unabhängig ist, kann wirklich neue Wege aufzeigen.
Was bedeutet das konkret?
Statt Verwaltungsakten brauchen wir Coaching. Statt Maßnahmen von der Stange brauchen wir modulare Weiterbildung. Statt Pflichttermine brauchen wir Zielgespräche auf Augenhöhe.
Unternehmen müssen frühzeitig eingebunden werden – nicht erst, wenn die Vermittlung scheitert.
Und die Jobcenter selbst müssen sich wandeln: Von kontrollierenden Behörden zu Potenzialagenturen.
Langfristig sollen sie sich selbst überflüssig machen, weil Integration gelingt – nicht weil Sanktionen wirken.
Wir können Arbeitsmarktintegration neu denken – potenzialorientiert, wissenschaftlich fundiert, menschlich tragfähig.
Es geht nicht um radikale Umbrüche. Es geht um kluge Neuorientierung. Aber dafür braucht es Mut. Mut zur Veränderung, Mut zur Verantwortung – und Mut zur echten Zusammenarbeit zwischen Politik, Wissenschaft und Praxis.
Denn wer heute nur verwaltet, verhindert das Morgen. Wer heute befähigt, baut Zukunft.
Wer heute das Richtige gut tut, spart jährlich Milliardensummen ein und dient damit einer gerechteren Gesellschaft als Ganzer, ohne dabei scheinheilige moralische bzw. ideologische Vorhaltungen in alle Richtungen machen zu müssen.
Wer den Tatsachen nicht ins Auge schauen will, mit dem machen die Tatsachen in der Folge was sie wollen.