Armut ehrlich bekämpfen
Armut ehrlich bekämpfen: Für eine Sozialpolitik jenseits von Bequemlichkeit und Systemträgheit
1. Einleitung
Armut zu bekämpfen ist ein moralischer und politischer Imperativ. Doch zwischen gut gemeinten Absichtserklärungen und tatsächlich wirksamer Politik klafft eine wachsende Lücke.
Trotz milliardenschwerer Sozialausgaben stagnieren die Armutsraten, und das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Fairness des Sozialstaats erodiert. Was läuft falsch?
Die Debatte über Armut wird oft emotional geführt – aber selten ehrlich. Ein übermäßiger Fokus auf externe Ursachen (Struktur, Herkunft, Bildungsungleichheit) verdeckt, dass auch individuelle Haltungen, etwa Resignation, Anspruchsdenken oder Bequemlichkeit, eine Rolle spielen.
Gleichzeitig wird selten gefragt, inwieweit die Helfer selbst Teil des Problems geworden sind – indem sie sich bequem eingerichtet haben, statt sich überflüssig machen zu wollen.
Dieser Beitrag plädiert für eine umfassende Reform der Armutsbekämpfung.
Er integriert klassische Einsichten von Immanuel Kant über die menschliche Bequemlichkeit und Niklas Luhmanns systemtheoretische Analyse von Hilfeinstitutionen.
Ziel ist ein neues Verständnis von Solidarität: Eines, das auf Verantwortung, Wirkung und Selbstbegrenzung beruht.
2. Die doppelte Trägheit des Sozialsystems
Moderne Wohlfahrtsstaaten stehen vor einer doppelten Herausforderung:
Auf der einen Seite gibt es dauerhafte Hilfebeziehungen, die kaum noch Perspektiven auf Erwerbsintegration oder soziale Teilhabe eröffnen. Viele Hilfesuchende verharren über Jahre – teils über Generationen – im System.
Auf der anderen Seite zeigen auch die Hilfeinstitutionen eine gewisse Trägheit: Sie messen sich zu selten an Ergebnissen und zu oft an Inputgrößen wie Fallzahlen oder Betreuungsstunden.
Beide Seiten – die Empfänger wie die Helfer – haben gelernt, sich im System einzurichten. Damit aber wird der Sozialstaat nicht zum Sprungbrett, sondern zur Endstation.
3. Verantwortung der Hilfesuchenden: Kants Einsicht in die Bequemlichkeit
Immanuel Kant diagnostizierte in seiner Aufklärungsschrift (1784), dass der Mensch dazu neige, „unmündig“ zu bleiben – nicht aus Unvermögen, sondern aus Bequemlichkeit:
„Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. […] Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
In der Sozialpolitik bedeutet dies: Wer Menschen dauerhaft von externer Unterstützung abhängig macht, beraubt sie der Möglichkeit zur Selbstverwirklichung.
Hilfe, die nicht zur Selbsthilfe motiviert, sondern Passivität toleriert, reproduziert genau jene Unmündigkeit, die Kant als geistige Gefangenschaft beschrieb.
Der Ruf nach mehr „Fordern“ ist kein neoliberales Dogma, sondern ein zutiefst aufklärerischer Gedanke. Menschen müssen nicht nur geschützt, sondern auch gefordert werden – in einem sozial abgefederten, aber klaren System gegenseitiger Pflichten.
4. Die Bequemlichkeit der Helfer: Luhmanns Systemkritik
Die Kritik richtet sich jedoch nicht nur an die Hilfesuchenden. Auch die Hilfsinstitutionen stehen in der Verantwortung – und auch hier zeigen sich Formen der Bequemlichkeit.
Niklas Luhmann, einer der einflussreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, stellte fest:
„Hilfesysteme neigen nicht dazu, sich überflüssig zu machen.“
Das bedeutet: Viele Hilfeangebote entwickeln eine Eigenlogik, die nicht auf Lösung, sondern auf Selbsterhalt ausgerichtet ist. Der Erfolg liegt nicht in der Überwindung des Problems, sondern in der Verwaltung von Klientel und Ressourcen. „Das Defizit als Geschäftsmodell“.
Ob Jobcenter mit Vermittlungsquoten im einstelligen Prozentbereich oder nicht staatliche Organisationen, die seit Jahren dieselben Zielgruppen begleiten, ohne deren Lebenslage signifikant zu verbessern – es entsteht ein „Sozialindustriekomplex“, dessen Existenz vom Fortbestehen der Probleme lebt:
„Das Defizit als Geschäftsmodell“.
5. Die Rolle der Solidargemeinschaft: Legitimität und Grenzen
Die finanziellen Mittel für soziale Transfers stammen aus der Solidargemeinschaft – hauptsächlich von Steuerzahlern der mittleren und oberen Einkommensgruppen. Deren Bereitschaft zur Umverteilung ist keineswegs unbegrenzt.
Wenn Sozialpolitik als Einbahnstraße erlebt wird – „die einen zahlen, die anderen beziehen“ – droht ein Legitimitätsverlust. Besonders dann, wenn Erwerbsarbeit subjektiv als weniger lohnend erscheint als Transferbezug. Es kann in diesem Zusammenhang auch nicht die alleinige Aufgabe der Solidargemeinschaft sein, die Lebenszufriedenheit und das psychische Wohlergehen von Menschen durch immer mehr und neue Grundsicherungsleistungen zu gewährleisten.
Hier sind Menschen, die erwerbsfähig sind und arbeiten können, auch selbst gefordert und auch selbstverpflichtet. Das kann die Solidargemeinschaft, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, auch verlangen und sich dabei auch moralisch auf das Gebot der Reziprozität berufen.
Eine langfristig tragfähige Sozialpolitik muss daher denjenigen, die sie finanzieren, Transparenz, Mitbestimmung und klare Wirkungsnachweise bieten. Solidarität muss sichtbar machen: Es lohnt sich, weil es wirkt.
6. Die Politik: Zwischen moralischer Rhetorik und Reformunwilligkeit
Viele politische Akteure vermeiden klare, reformorientierte Aussagen zur Armutspolitik. Stattdessen dominiert ein Diskurs der moralischen Pflichten, in dem jede Kritik an ineffizienter Hilfe als unsozial gilt.
Dieses Klima verhindert lernende Systeme. Anstatt Fehler zu benennen und zu korrigieren, werden sie unter moralischem Deckmantel konserviert.
Eine wirksame Sozialpolitik braucht daher mehr Mut zur Unbequemlichkeit:
- zur Evaluation bestehender Maßnahmen,
- zur Umstellung von Input- auf Outputorientierung,
- zur klaren Unterscheidung zwischen temporärer Bedürftigkeit und dauerhafter Abhängigkeitt.
7. Die Wirtschaft als Teil der Lösung
Unternehmen sind nicht nur Zahler, sondern potenziell zentrale Akteure sozialer Integration. Sie können durch Qualifizierung, Beschäftigung und soziale Innovation Menschen aus der Armut führen und Anschluss herstellen– wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Es braucht neue Modelle:
- Lohnmodelle für die Integration Geringqualifizierter,
- steuerliche Anreize für soziale Beschäftigung,
- Beteiligung an Bildungspartnerschaften und Schulprojekten.
So wird die Wirtschaft vom Randakteur zum kooperativen Partner der Sozialpolitik.
8. Fünf Prinzipien für eine neue Sozialpolitik
Verantwortung statt Anspruchsdenken
Soziale Unterstützung ist Teil eines gegenseitigen Vertrags. Rechte implizieren Pflichten.
Wirkungsorientierung statt moralischer Symbolpolitik
Entscheidend ist, was hilft – nicht, was gut gemeint ist.
Selbstbegrenzung statt Systemerhalt
Hilfeinstitutionen müssen sich am Ziel messen lassen, überflüssig zu werden.
Transparenz und Rechenschaft
Alle Beteiligten – Empfänger, Träger, Politik – müssen ihre Wirksamkeit nachweisen.
Partizipation der Zahler
Die finanzierende Mitte verdient Mitsprache über Prioritäten und Budgeteinsatz.
9. Eine unabhängige Arbeitsmarktwissenschaft ist notwendig
Wer ernsthaft wissen will, was funktioniert – und was nicht – braucht verlässliche, unabhängige Forschung. Das IAB, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, spielt dabei eine Schlüsselrolle.
Es analysiert die Wirkung von Programmen, von Maßnahmen, von Vermittlungsarbeit.
Doch: Das IAB ist eine Einrichtung der Bundesagentur für Arbeit.
Es forscht über genau die Strukturen, denen es selbst angehört und die es mitgestaltet. Das ist so, als ob ein Unternehmen seine eigenen Produkte bewertet – ohne externe Kontrolle. Wir brauchen hier mehr Unabhängigkeit.
Denn sonst bleibt die entscheidende Frage unbeantwortet: Hilft das, was wir tun – oder hilft es nur dem System, sich selbst zu bestätigen?
Ein wirklich ehrlicher Sozialstaat braucht auch ehrliche Forschung. Das IAB sollte deshalb institutionell unabhängig werden – wissenschaftlich, personell und finanziell.
Nur so kann sichergestellt werden, dass Erkenntnisse nicht angepasst werden, sondern wirklich zur Verbesserung beitragen.
10. Fazit: Hilfe als Brücke, nicht als Endstation
Armutsbekämpfung ist zu wichtig, um sie Bequemlichkeit und Systemträgheit zu überlassen. Wer Hilfe gibt, muss Verantwortung einfordern.
Wer Hilfe erhält, muss Perspektiven entwickeln. Und wer Hilfe organisiert, muss sich an Wirkung messen lassen – nicht an Gesinnung.
Wirkliche Solidarität bedeutet: Menschen zuzutrauen, sich aus der Armut herauszuarbeiten – und Strukturen so zu gestalten, dass sie diesen Weg möglich machen.
Hilfe muss zur Brücke in ein selbstbestimmtes und souveränes Leben werden – nicht zur dauerhaften Stationierung im Abhängigkeitsverhältnis.
Literaturhinweise (Auswahl)
- Kant, Immanuel (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
- Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
- Butterwegge, Christoph (2021): Armut in einem reichen Land: Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird.
- Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) (2023): Sozialstaat auf dem Prüfstand
- Bundesagentur für Arbeit (2024): Statistik zur Arbeitsmarktintegration von Langzeitleistungsbeziehenden

„Zugleich ist anzuerkennen, dass jede Verbesserung des Wohlergehens in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zur Aufrechterhaltung von Arbeitsanreizen steht. Dieser Zielkonflikt zwischen dem Schutz von Würde und dem Prinzip der Eigenverantwortung auf der einen sowie gesellschaftlichen Erwartungen an Erwerbsanreize auf der anderen Seite ist praktisch und politisch unterschiedlich bewertbar.“
Was will uns diese ambivalente Aussage des IAB wohl sagen?
Wahrscheinlich: weiter so wie bisher – nur mit der Maßgabe, die Grundsicherungsleistungen weiter auszudehnen!
„Denn nur so lässt sich das subjektive Wohlbefinden der Betroffenen und damit auch deren soziale Integration langfristig sichern.“(Ebenda)
Quelle: https://iab-forum.de/der-bezug-von-grundsicherungsleistungen-geht-auch-laengerfristig-mit-einer-geringeren-lebenszufriedenheit-einher/