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Der moderne Sozialstaat – wie er eigentlich sein sollte

„Man hilft den Menschen nicht, wenn man für sie tut was sie selbst leisten können.“ A. Lincoln

Der Sozialstaat im Zeitalter des „Neuen Wohlstands“: Vom Versorgungs- zum Ermöglichungsstaat

Ausgangslage

Der Sozialstaat steht vor einem doppelten Paradox: Er soll Menschen schützen und befähigen – führt aber strukturell häufig zu Abhängigkeiten. Soziale Hilfe, die Freiheit ermöglichen soll, wird zur dauerhaften Rolle.
Immanuel Kant beschreibt die menschliche Tendenz zur Bequemlichkeit (Kant 1784), während Niklas Luhmann darauf verweist, dass soziale Systeme ihre eigene Fortsetzung sichern und sich nicht überflüssig machen wollen (Luhmann 1984). Beide Einsichten sind zentral für das Verständnis gegenwärtiger Sozialstaatslogiken.

Parallel dazu argumentieren Klein und Thompson in Der Neue Wohlstand (engl. Abundance, 2024), dass moderne Politik institutionelle Engpässe überwinden und staatliche Kapazitäten stärken müsse: Staaten sollen bauen, innovieren und Anschluss schaffen – nicht primär regulieren und reparieren. Dieser Gedanke lässt sich direkt auf die Mikrostrukturen des Sozialstaats übertragen.

Problemdiagnose: Verwaltung statt Befähigung

Der heutige Sozialstaat ist hochgradig administrativ geprägt. Er beurteilt, kontrolliert, kategorisiert und stigmatisiert – und reproduziert damit strukturell:

  • Passivität bei Bürgerinnen und Bürgern (Herriger 2006),

  • Selbsterhaltungslogiken in Organisationen (Baecker 1994),

  • eine Kultur des Misstrauens statt der Ermöglichung.

Damit entsteht ein selbstverstärkender Kreislauf:
Hilfe wird nicht zum Übergang, sondern zum Zustand.

Neues Leitbild: Der Sozialstaat als „Builder State“ im menschlichen Maßstab

Die von Klein und Thompson geforderte aktive, aufbauorientierte Politik lässt sich sozialstaatlich als Ermöglichungsstaat interpretieren.

Er richtet seine Ressourcen nicht an Mängeln, Defiziten oder Hemmnissen aus, sondern an Stärken bzw.Potenzialen, an Anschlussmöglichkeiten und Zukunftschancen.

Dieses Leitbild greift zentrale Grundsätze der christlichen Sozialethik auf – insbesondere Subsidiarität, personale Würde und Selbstentfaltung sowie Stärkung der Identität (Höffner 1976; Pontifical Council 2004).

Soziale Hilfe soll unterstützen, nicht ersetzen; stärken, nicht entmündigen. Erfolgreiche Hilfe schafft Anschlussmöglichkeiten und macht sich überflüssig.

Kernelemente eines aktivierenden, lernenden Sozialstaats (Empowerment-orientiert)

Das wissenschaftliche Konzept des Empowerment ist die mikrosoziale Entsprechung des makroökonomischen „Builder State“-Paradigmas: Entfaltung von Stärken statt Fokussierung auf und Verwaltung von Schwächen.

  • Empowerment statt Defizitlogik
    Menschen werden als kompetent und fähig adressiert – nicht als defizitäre „Fälle“.

  • Vertrauen als institutionelle Ressource
    Weniger Kontrolllogik, mehr Handlungsspielräume; Hilfe setzt auf Kooperation, nicht Compliance.

  • Institutionen als Ermöglichungsarchitekturen
    Organisationen gestalten Übergänge, unterstützen Selbstwirksamkeit und lösen starre Fallbearbeitung ab.

  • Geteilte Verantwortung
    Der Staat übernimmt Verantwortung mit den Menschen – nicht für sie. Subsidiarität wird zur operativen Leitlinie.

  • Wirkungsorientierung statt Bürokratieorientierung
    Maßstab des Erfolgs: Autonomiegewinne, Kompetenzerweiterung und nachhaltige Teilhabe.

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Schlussfolgerung

Ein Sozialstaat im Geist des „Neuen Wohlstands“ versteht Hilfe als temporäre Befähigung, nicht als dauerhafte Intervention.
Er schafft Anschluss, baut Chancen, stärkt Handlungsmacht sowie Selbstverantwortung und verschiebt die Logik von der Verwaltung des Mangels zur Förderung menschlicher Entwicklung sowie souveräner Identität.
So entsteht ein lernender, zukunftsorientierter Builder State, der sowohl institutionell handlungsfähiger als auch menschenwürdiger ist.

 

Literatur

Philosophie & Anthropologie

  • Kant, Immanuel (1784): Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.

  • Kant, Immanuel (1785): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.

Systemtheorie & Soziologie sozialer Hilfe

  • Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

  • Baecker, Dirk (1994): Postheroisches Management. Berlin: Merve.

  • Herriger, Norbert (2006): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag.

Sozialethik

  • Höffner, Joseph (1976): Christliche Gesellschaftslehre. Freiburg: Herder.

  • Korinther 12 –  Individuelle Gaben und Gesellschaft: Bibel

Neue politische Ökonomie & Staatlichkeit

  • Klein, Ezra / Thompson, Derek (2024): Abundance. The New Politics of American Prosperity. (dt. Der Neue Wohlstand).

  • Thompson, Derek (2022): „The Abundance Agenda“, The Atlantic.

Bauen statt bremsen, ermöglichen statt verwalten, wachsen lassen statt festhalten, Lösungen und Anschluss schaffen statt Defizite und Hemmnisse zählen, Stärken erkennen statt im Problemhamsterrad verharren …